Jeden Donnerstag fährt ein russischer Nachtzug von Moskau an die Côte d’Azur. 3300 Kilometer in 49 Stunden. An Bord sind Urlauber, Geschäftsleute, Romantiker. Was halten sie, die durch sieben Länder reisen, von der Idee Europa?
Das ist also unser Zug. Auf Gleis 2. Lang, grau mit großen roten Lettern darauf: RŽD, das Kürzel der russischen Eisenbahn. Die polnischen Grenzbeamten haben ihn gerade freigegeben. An diesem grauen, kalten Herbstmorgen am Rande Europas. Nebel umhüllt den Bahnhof von Terespol, einen gesichtslosen Betonklotz an der polnisch-weißrussischen Grenze.
Hierher verirrt sich nur, wer in die Zwillingsstadt Brest will, auf der anderen Seite. Oder wer weiterfahren möchte wie wir, weiter nach Europa hinein.
Fahrgäste kommen außer uns keine. Trotzdem steht an jeder Eingangstür aufgereiht ein Zugbegleiter – die Männer in feinem blauen Anzug und Schirmmütze, die Frauen in einem grauen Kostüm und Baskenmütze. So auch an Wagen 351. Es ist Zugchef Alexander Petrowitsch persönlich, der unsere Fahrkarte kontrolliert und uns zum Abteil eskortiert.
Im Abteil sitzen bereits zwei Damen vor dampfenden Teetassen. Wir, mein Übersetzer und ich, dürfen es uns auf den oberen Liegen Nummer 65 und 66 bequem machen.
Einstieg am östlichsten Zipfel Europas
Der Zug, in dem wir jetzt sitzen, startet jeden Donnerstag am Moskauer Fernbahnhof Beloruskaja mit einem besonderen Reiseziel: Nizza, Frankreich, Côte d’Azur. Seine Geschichte geht zurück in die Zarenzeit, seit 2010 fährt er wieder regelmäßig einmal in der Woche.
Auch wir wollten mitfahren und ausprobieren, wie es ist, in 49 Stunden 3300 Kilometer und sieben Länder Europas zu durchkreuzen. Leider gab es Probleme mit dem russischen Journalistenvisum. Also steigen wir am östlichsten Zipfel der EU ein, dort, wo wir kein Visum brauchen. Bis nach Nizza sind es noch immer über 2000 Kilometer oder 33 Zugstunden. Genug Zeit also, um mit den Menschen hier ins Gespräch zu kommen.
Das Vier-Bett-Abteil unseres Autors und seiner Mitreisenden.© Alexander Haas
Wir haben es uns in der Zwischenzeit in unserem Abteil bequem gemacht. Es ist erstaunlich geräumig hier, große Panoramafenster, ein Tischchen in der Mitte. Die Betten sind mit weißen Laken bezogen, alles wirkt wie neu. Unsere Mitbewohnerinnen sind beide um die 60.
Larissa – langes rotes Haar, Halstuch, Steppweste – kommt aus Moskau und ist auf dem Weg nach Italien: „Der Schwiegersohn ist arbeitsmäßig nach Verona geflogen. Meine Tochter kommt morgen früh mit dem Flugzeug nach. Erst bleiben wir ein bisschen in der Stadt, dann fahren wir nach Venedig und später weiter in Richtung Österreich. Der Vater meines Schwiegersohns hat in Wien eine Wohnung gekauft. Seit drei Jahren werden wir schon eingeladen, jetzt ist es endlich soweit.“
Dina, unsere zweite Mitbewohnerin, kommt aus Brest in Weißrussland und ist auf dem Weg zu ihrer Tochter nach Innsbruck. Sie ist etwas kleiner und rundlicher als Larissa, trägt blonde Haare und regt sich gerne einmal über die Grenzkontrollen auf.
„Diesmal waren die Weißrussen und die Polen beide okay“, sagt sie. „Das ist reine Glückssache. Manche sind nett, manche sind weniger nett, und manche versauen dir den ganzen Urlaub. Vor allem mag ich es nicht, wenn sie im Koffer herumwühlen. Wer hat das Recht, meine persönlichen Sachen zu durchsuchen?“
Ruhe, Ausblick, lange Gespräche
Es wird nicht das einzige Mal auf dieser Fahrt sein, dass sich Dina mit ihrer Meinung über ihr Heimatland nicht zurückhält. Weißrussland werde mit harter Hand regiert, Kritik am Regime mit harten Strafen geahndet. Deshalb möchte Dina nicht ihren richtigen Namen im Radio hören.
Mit dem Zug fahren Larissa und Dina beide gerne: die Ruhe, der Ausblick, die langen Unterhaltungen. Auch dass ein russischer Zug die Grenze nach Europa überwindet, wissen sie zu schätzen.
„Bei euch ist es so wie bei uns mit Weißrussland. Man kriegt das gar nicht mit, wenn man über die Grenze fährt. Und zwischen Europa und Weißrussland wirkt es, als ob wir von einem anderen Planeten kämen.“
Wir machen uns auf die Suche nach dem Zugchef. Auf dem Gang unseres Wagens ist nicht viel los. Etwa zehn Vierer-Abteile reihen sich aneinander, rote Teppichvorleger schmücken den Flur. An dessen Ende sitzt Alexander Petrowitsch, 57 Jahre alt, in einem kleinen Dienstabteil, vor sich allerlei Dokumente auf dem Tisch, daneben seine graue Schirmmütze mit dem großen Eisenbahner-Emblem aus Hammer und Messschieber. Er trägt einen kleinen Schnauzbart und darunter häufig ein Grinsen.
Ein Billigflug kostet die Hälfte
Eine Zugfahrt Moskau-Nizza kostet mehr als 300 Euro, Billigflüge sind schon für die Hälfte zu haben. Warum nimmt jemand da noch den Zug, Alexander Petrowitsch?
„Romantik. Die Leute wollen näher am Leben sein, denn das Leben ist sehr kurz“, sagt er. „Und wenn du im Zug fährst, erholst du dich und siehst mehr vom Leben. Im Flugzeug, bei dieser Schnelligkeit, kriegst du nichts mit. Hier kann man sich hinsetzen, ins Restaurant gehen, aus dem Fenster schauen. Und sich ein bisschen erholen.“
Zugchef Alexander Petrowitsch (links) und Autor Philipp Lemmerich.© Alexander Haas
Wer mit Alexander Petrowitsch spricht, den befällt schnell jenes Gefühl, mit dem lange Zugreisen seit jeher verbunden sind. Es ist die Faszination der unendlichen Weite und der nicht vergehen wollenden Zeit.
„Hier in diesem Zug sind es häufig dieselben Passagiere“, erzählt Alexander Petrowitsch. „Man kennt sich. Darum sehen die meisten in mir nicht den Zugbegleiter, sondern den Bewohner eines Hauses. Sie gehen herum und grüßen mich: ‚Freut mich, Sie zu sehen‘. Und gegenseitig haben sich die vielen Passagiere auch schon kennengelernt. Der Zug ist zu einem Haus auf Rädern geworden. Großes Haus.“
Die meisten Passagiere sind Urlauber
Zugchef Alexander Petrowitsch fährt die Strecke quer durch Europa zwei Mal im Monat – hin und zurück. Während des Ersten Weltkriegs eingestellt, ging die Verbindung 2010 wieder in Betrieb. Vor drei Jahren dann wurde das 150-jährige Jubiläum begangen, ganz offiziell in Anwesenheit des russischen und des französischen Verkehrsministers.
„Das war eine feierliche Situation“, erinnert sich Alexander Petrowitsch. „Es ist schön, dass sie wieder vereint sind, die Europäer und die Russen. Dass es das wieder gibt.“
Die meisten der Passagiere sind Urlauber. Geschäftsleute nutzen den Zug eher selten, für ihren Alltag sind die Fahrtzeiten dann doch zu lang.
„Wir laden ganz Europa in unseren Zug ein. Jeder Passagier bekommt einen gemütlichen, weichen Platz.“
Blick in den Speisewagen des Moskau-Nizza-Express: Zur Mittagszeit ist hier einiges los.© Alexander Haas
Wir machen uns auf in den Speisewagen. Jetzt zur Mittagszeit ist er gut gefüllt. Etwa 20 Passagiere haben auf bequemen orangenen Sesseln Platz genommen, vor ihnen beige Tischdecken und Salate, Fleisch und Teigtaschen auf Porzellangeschirr.
„Ich heiße Dimitri, bin 34 Jahre alt, komme aus Kiew und arbeite seit zwei Jahren als Koch hier an Bord. Was am meisten bei uns rausgeht: Steak, Dorsch, Hühnchen und paniertes Schnitzel. Anfangs war es ziemlich anstrengend, aber die Arbeit macht Spaß. Hier sind nur Leute, die ihre Arbeit lieben.“
Theaterregisseur trifft Geschäftsmann
Im hinteren Teil des Wagens unterhalten sich zwei Männer angeregt bei einer Portion Fisch. Während draußen das polnische Flachland vorbeizieht, haben sie sich einiges zu erzählen. Und wie es sich auf langen Zugfahrten gehört, haben sie sich gerade kennengelernt.
Anatoli ist Theaterregisseur aus Linz und kommt gerade von einem Festival in Sibirien. Mit seinem Ensemble ist er in ganz Europa unterwegs, aber anders als seine Schauspieler nimmt er dabei nie das Flugzeug, schon seit 30 Jahren, wegen Herzproblemen. Im Moment ist er seit mehr als drei Tagen unterwegs: Reden, schlafen, lesen, denken, sagt er.
Das Festival in Sibirien sei ein voller Erfolg gewesen: „Sie spielt natürlich in deutscher Sprache, meine Schauspielerin. Aber alle Leute, Publikum, sibirische, haben gesagt: alles klar. Durch die internationale theatralische Sprache. Bewegung. Theater ist Bewegung. Innere oder physische, egal. Ich habe gesagt: Russische Schule. Augen, Herz, Seele. Das ist russische Schule.“
Sein Gegenüber, ein Geschäftsmann aus Krasnodar, hat keine Herzprobleme, aber Flugangst. Er ist auf dem Weg in den Urlaub nach Mailand: „Die Italiener sind den Russen ähnlich, nur noch ein bisschen lauter. Sie sind recht offen, die meisten scheinen nett zu sein, so wie wir eben. Und sie mögen uns Russen. Deswegen fahren wir da hin.“
Aber auch zu Hause scheint er zufrieden zu sein. Auf seinem Smartphone zeigt er uns Bilder von seiner Datscha in der Nähe von Sotschi – mit großem Garten und weitem Blick über das Schwarze Meer: „Meine Frau, meine Küche. Unser Meer, Garten am Meer. Black Sea. Hier angle ich.“
Leben mit Lukaschenko
Zurück im Abteil. Larissa und Dina, unsere Mitbewohnerinnen, haben gerade ihre mitgebrachten Süßigkeiten geteilt und blicken schmatzend nach draußen, auf kleine polnische Dörfer und umgegrabene Äcker. Es ist angenehm warm, Dina hat sogar die Ärmel ihres Rollkragenpullovers hochgekrempelt.
Irgendwann beginnt sie zu erzählen: „Ich bin in Odessa geboren und mit 21 nach Weißrussland gezogen. Das war 1986. Danach hat sich alles verändert. Wir vergleichen das Heute mit dem alten Leben. Ausbildung, ärztliche Behandlung, sogar die Wohnungen waren kostenlos. Und alles war relativ stabil. Jetzt ist es sehr schwierig in Weißrussland. Die jungen Leute, die aus der Uni kommen, finden keine Jobs. Die Werke und Fabriken sind geschlossen, die Gehälter gering. Wer die Möglichkeit hat, geht weg. Ich frage mich manchmal, wie wir das überleben.“
Weißrussland gilt vielen als letzte Diktatur Europas. Präsident Alexander Lukaschenko hält das Land seit 25 Jahren fest im Griff, und ein Ende ist nicht in Sicht: Bei der nächsten Präsidentschaftswahl will er wieder antreten.
„Ohne sein Wort passiert gar nichts“, sagt Dina. „Was er sagt, gilt. Und gleich am nächsten Tag wird es ausgeführt. Wir leben in einer Diktatur. Auf einen Menschen gibt es zwei Polizisten. Meine Tochter sagt immer: Komm, zieh zu mir! Aber wahrscheinlich ist es schon zu spät.“
„Die Österreicher sind alle so gediegen“
Dinas Tochter ist mit einem Österreicher verheiratet. Sein neun Jahren lebt sie dort, in der Nähe von Innsbruck, und will auch nicht mehr zurück. Als sie das erzählt, wirkt sie für einen Augenblick geknickt, doch wenig später lächelt sie schon wieder.
„Jeder soll sich selbst aussuchen, wo er glücklich wird“, sagt sie. „Ich halte es einfach nicht so lange aus in Österreich. In der ersten Woche denke ich: ‚Das ist eine super Sache, wie ruhig es hier ist!‘ Die Leute sind entspannt, sie grüßen sich und lächeln. Keine Anspannung in den Gesichtern. Im Gegensatz zu uns, da laufen die Leute ja so wütend durch die Gegend. Und dann, wenn ich mich erholt habe, dann fehlt mir doch etwas. Bei uns hat man ja immer etwas zu tun, und zwar hier und heute. Und bei den Österreichern ist es so: ‚Naja, es hat halt nicht geklappt, dann machen wir es morgen.‘ Die sind alle so gediegen. Und irgendwann geht mir das auf den Keks. ‚Wie morgen? Das muss heute passieren!‘ Es geht ziemlich genau für zwei Wochen gut. Und nach zwei Wochen fange ich an, müde zu werden von dieser Gediegenheit. Ich kann das nicht!“
Wir lachen viel an diesem Nachmittag, aber sprechen auch über ernste Themen – die Lage in Belarus, die fehlenden Enkelkinder – und irgendwann landet das Gespräch dort, wo es früher oder später immer landet, bei der Politik.
„Meine Tochter hat acht Jahre gewartet auf eine Aufenthaltserlaubnis. Und jetzt sagt sie: Wie kann das sein? Ich habe so lange gebraucht, um alles korrekt zu machen. Alles wurde genauestens durchgeschaut und überprüft. Und die Flüchtlinge kommen hierher und bekommen gleich die Möglichkeit zu bleiben? Wie kann das sein? Warum werden die einen so und die anderen so behandelt?“
Osteuropas Blick auf die Migration
Es ist das erste Mal auf dieser Zugfahrt, dass wir auf die Migrationsdebatte angesprochen werden, aber es wird nicht das letzte Mal bleiben. In mehreren Gesprächen wird unsere Herkunft als Deutsche sofort mit Angela Merkels Entscheidung, 2015 die Grenze nicht zu schließen und sich damit bereit zu erklären, Tausende Flüchtlinge aus Ungarn aufzunehmen, in Verbindung gebracht. Überraschend ist das nicht: Viele Osteuropäer nehmen Migration als Gefahr wahr, sehen Offenheit und Toleranz als Bedrohung.
„Ich mache mir Sorgen um euch. Bei diesen Flüchtlingsströmen, die zu euch kommen. Das ist eine ganz andere Mentalität. Und auch noch in so hoher Anzahl. Ich bin der Meinung, das sollte man so nicht handhaben. Man hat euch da etwas eingebrockt.“
Zu gerne hätten wir das Thema auch mit anderen Osteuropäern diskutiert. Mit unseren Nachbarn in Polen zum Beispiel, die gerade wieder der nationalkonservativen PiS-Partei eine absolute Mehrheit beschert haben. Auch für sie gelten Migranten oft als Feindbild. Doch leider steigt kein einziger polnischer Fahrgast zu.
Zwischenhalt in Bohumin in Tschechien: Demnächst rollt das fahrende Hotel wieder los.© Alexander Haas
Draußen ist es inzwischen dunkel geworden. Wenig später kündigt ein großes beleuchtetes Schild den nächsten Bahnhof an: Bohumin, Tschechische Republik. Wir haben, ohne es zu merken, gerade eine Grenze überquert. Bei einer halben Stunde Aufenthalt wird wie an jeder Grenzstation der Triebwagen gewechselt.
Snacks und Bier aus dem tschechischen Supermarkt
Gegenüber vom Bahnhof ist ein kleiner Supermarkt. An der Kasse hat sich schon eine Schlange von Zugpassagieren gebildet. Kalte Getränke, tschechisches Bier, Snacks. Zugchef Alexander Petrowitsch stellt sich an der Fleischtheke an und bestellt Salami in Scheiben. Wenig später rollt das fahrende Hotel wieder los.
„Ich heiße Paulina, bin 25 Jahre alt und fahre von Moskau nach Wien, um mit meinem Master anzufangen. Vor drei Jahren bin ich von Wien nach Russland gezogen, und jetzt ziehe ich wieder dorthin zurück.“
Paulina, blonde Haare, junges Gesicht, sitzt in ihrem Abteil und ist sichtlich aufgeregt. Um 21 Uhr, in weniger als zwei Stunden, werden wir ihr altes wie neues Zuhause Wien erreichen. Einen großen Koffer hat sie dabei, den Rest ihrer Habseligkeiten hat sie per Post geschickt.
„Ich wollte etwas ganz Besonderes machen.“, sagt sie. „Denn in Moskau habe ich für die Russische Eisenbahn gearbeitet. Ich liebe Züge, ich liebe lange Zugfahrten, von daher wirkte das hier wie das beste Ende meiner Zeit in Moskau.“
„Europa ist wie ein großes Haus“
Paulina ist in Russland geboren, aber weggezogen, als sie zwei Jahre alt war. In Italien wuchs sie auf, studierte in Österreich, zog für den ersten Job nach Moskau – ein ziemlich europäisches Leben also.
„Es ist großartig, wie alles miteinander verbunden ist“, sagt sie. „Wie einfach es ist zu reisen, in unterschiedlichen Ländern zu studieren. Europa ist wie ein großes Haus, wie ein großes Zuhause. Eine Gemeinschaft. Und es ist toll, einfach zwischen den Ländern zu wechseln. Ich glaube, ich habe in jeder großen europäischen Stadt Freunde oder Leute, die ich kenne.“
Spätestens seit der Ukraine-Krise im Jahr 2014 ist das Verhältnis zwischen Russland und der EU politisch angespannt. Viele aus der russischen Community in Europa haben diese Entwicklung mit Sorge betrachtet.
Auch Paulina hat erlebt, dass sich etwas in ihrem Alltag veränderte: „Als das alles angefangen hat, hat man gemerkt, wie Leute plötzlich einen Schritt vor dir zurückgewichen sind: ‚Ach so, du bist Russin.‘ Förderungen für Kultureinrichtungen wurden gestrichen, man war sehr vorsichtig mit russischen Unternehmen und Institutionen. Jetzt wird es langsam wieder besser. Die Leute verstehen langsam, dass davon niemand profitiert. Politik spielt sich auf einer anderen Ebene ab, jenseits der Bevölkerung.“
Langsam kehrt Ruhe ein in dem Haus auf Rädern. Viele Passagiere haben sich in ihre Abteile zurückgezogen. Draußen ist dunkle, österreichische Nacht. Wir sind noch lange nicht müde und versuchen deshalb noch einmal unser Glück im Speisewagen. Hier ist zumindest noch ein bisschen was los. Dimitri, der Koch, und seine Kollegen räumen die Küche auf. Am vordersten Tisch sitzt Zugchef Alexander Petrowitsch und winkt uns zu sich. Wie wird man eigentlich zum Eisenbahner, Alexander Petrowitsch?
„Mein Opa war Eisenbahner, meine Mutter war Eisenbahnerin“, erklärt er. „Und so ist es auch bei mir gekommen, Schritt für Schritt. Es ist eine Familientradition. Man lernt die Arbeit nur mit der Arbeit. Als ich hergekommen bin, habe ich von Älteren gelernt: den Umgang mit Menschen, technische Fragen. Und langsam bin ich daran gewachsen.“
Der Schlaf ist tief, aber kurz
Alexander ist sichtlich stolz auf seinen Beruf. An seinem Handgelenk trägt er eine Uhr mit dem Logo der russischen Staatsbahn. Ein Geschenk des Generaldirektors, wie er uns erzählt, als Auszeichnung für seine Arbeit. Später bittet uns Alexander, das Mikrofon auszuschalten – auch er hat einmal Feierabend. Wir stoßen mit einem Gläschen Wodka darauf an und unterhalten uns über Gott, die Welt und die Eisenbahn. Unser nächster Halt Linz leuchtet in der Nacht.
Der Schlaf ist tief, aber kurz. Um 4.30 Uhr klopft es vorsichtig an der Tür: Die Nachtschaffnerin. Wir sind gleich in Innsbruck. Unsere Mitbewohnerin Dina schält sich aus dem Laken und packt ihre Habseligkeiten zusammen. Wir begleiten Dina noch nach draußen und helfen ihr, ihren schweren Koffer hinauszuhieven. Die Verabschiedung ist herzlich. Es ist, als würden wir uns schon sehr viel länger kennen.
Draußen am Gleis kann man seinen eigenen Atem sehen, so kalt ist es. Auch in Innsbruck haben wir wieder etwas Aufenthalt. Die Nachtschaffner stehen auch mitten in der Nacht aufgereiht wie an einer Perlenkette vor ihren Waggons, in dicke graue Winterjacken eingehüllt. Gesprochen wird wenig. Als Dinas Tochter ankommt, um ihre Mutter abzuholen, winken wir noch lange hinterher.
Vorbei an Berggipfeln und Apfelplantagen
„Ich bin schon überzeugt. Das ist der beste Anfang: Mit Sonne und tollem Himmel.“ Am frühen Morgen sitzt unsere verbliebene Mitbewohnerin Larissa auf ihrer Pritsche und schaut durch das große Panoramafenster nach draußen. Die Sonne bricht sich an Berggipfeln, draußen ziehen Apfelplantagen vorbei. Südtirol.
Larissa freut sich wie ein kleines Kind: „Es erinnert daran, wie man in Sotschi reinfährt. Nur dass auf der anderen Seite direkt das Meer ist.“
Italienpremiere: Larissa aus Moskau auf dem Bahnsteig von Verona.© Alexander Haas
Larissa ist zum ersten Mal in Italien. Verona habe sie sich schon digital angeschaut, auf Google Street View. Die Arena, das berühmte Amphitheater von Verona. Den Balkon von Romeo und Julia. Und morgen fahre sie mit ihrer Tochter zum Gardasee.
Irgendwo zwischen Bolzano und Rovereto wird aus Südtirol plötzlich Italien. Aus pittoresken Bergen werden liebliche Hügel, die Architektur verändert sich. Vorbei die tiefen alpinen Dächer, stattdessen erstrahlen die kleinen Dörfer im Morgenlicht in Orange- und Beige-Tönen. Verona ist nicht mehr weit.
Großreinemachen nach 24 Stunden
Am Gleis in Verona ist geschäftiges Treiben. Menschen wuseln durcheinander, unterhalten sich lautstark. Auch hier haben wir wieder eine halbe Stunde Aufenthalt. Wir nutzen die Zeit für einen echten italienischen Espresso im Bahnhofscafé. Terespol wirkt jetzt, nach ziemlich genau 24 Stunden Fahrt, sehr weit weg.
Als wir weiterfahren, hantiert eine Zugbegleiterin mit einem Staubsauger im Flur. Einige Abteile haben sich über Nacht geleert, dort werden jetzt die Betten frisch bezogen. Großreinemachen im fahrenden Zug.
In einem Nachbarwagen sitzt ein hellblondes Mädchen mit einem Buch in der Hand. Sie teilt sich ein Vier-Bett-Abteil nur mit ihrer Mutter – sehr komfortabel also.
„Ich heiße Katja, bin 16 Jahre alt und fahre von Moskau nach Monaco“, sagt sie. „Mit meiner Mutter. Ich habe Angst vor Flugzeugen. Für mich ist es angenehmer, mit dem Zug zu fahren, und ausruhen kann ich mich hier auch.“
Katja hat noch nie in ihrem Leben ein Flugzeug genommen. Dafür bringen Züge sie drei bis vier Mal pro Jahr überallhin, meistens nach Monaco. Eine Woche Zeit hat sie diesmal dort. Es erwartet sie ein privater Tennislehrer und ein privater Französischlehrer. Man kennt sich bereits gut.
Zum Fitnessurlaub nach Monaco
„Ich gehe häufig ins Fitnessstudio“, sagt Katja. „Wenn ich in Monte Carlo bin, versuche ich gesund zu leben. Das ist in Monte Carlo einfacher als zu Hause in Moskau, da habe ich kein Unterricht und keinen Stress.“
Katja fährt nach Monte Carlo, wann immer es möglich ist. Damit sei sie nicht alleine, sagt sie, viele ihrer Freunde führen auch dorthin. Und ohnehin sei ja fast die Hälfte der Bevölkerung aus Russland. Der Service, die Restaurants, die Geschäfte, das Meer – das alles sei einfach fantastisch. Wenn Monaco einmal nicht drin ist, fährt Katja auch gerne nach Sotschi – oder bleibt einfach in Moskau.
„Moskau ist die beste Stadt überhaupt“, sagt sie. „Ich bin schon in vielen europäischen Städten herumgekommen und es war schön, aber ich werde nie aus Moskau wegziehen. Man kann einfach so viel unternehmen. Alles hat immer offen. Wir haben eine gute Architektur, einen guten Service und die besten Restaurants. Die Stadt schläft nie. Alle sind immer unterwegs. Für mich ist das genau das Richtige.“
Letzte Grenze, letzter Lok-Wechsel
In Mailand steigen viele Passagiere aus. Langsam wird es ruhig, offenbar bleiben nicht viele bis zur Endhaltestelle in Nizza. In Ligurien erscheint endlich ein großer blauer Fleck am Horizont, das Mittelmeer. Hinter Genua geht die Strecke nur noch an der Küste entlang, unterbrochen von unzähligen Tunneln sind Strände zu sehen, Menschen mit bunten Badetüchern, die unter Sonnenschirmen liegen.
Ab Genua verläuft die Strecke entlang der italienischen Mittelmeerküste.© Alexander Haas
Eine letzte Grenze müssen wir überqueren, ein letztes Mal die Lok wechseln. Im Grenzort Ventimiglia halten wir noch einmal. Die Wartezeit reicht für einen kleinen Ausflug in das Städtchen hinein. Vespas schieben sich durch den Verkehr, Menschen gestikulieren vor dem Gemüseladen, die Cafés der Einkaufsstraße sind voll.
In einem Stadtpark spielt eine Gruppe Aktivisten Straßentheater, es geht um die Situation der Migranten. Wir beobachten interessiert, aber wir gehören nicht dazu. Es wirkt sehr surreal, nach Polen, Tschechien und Österreich auf einmal mitten in Italien zu sein. Wir freuen uns, als wir die Crew am Gleis wiedersehen, uns wieder ans Panoramafenster in unserem Abteil setzen können. Der Zug ist zu einem kleinen Zuhause geworden. So könnten wir auch weiterfahren bis ans andere Ende Europas.
„Die Eisenbahn ist für Menschen da. Man sollte das nicht alles dem Geld unterwerfen.“ Ein letzter Besuch bei Zugchef Alexander Petrowitsch. Er sitzt wieder in seinem Abteil mit dem kleinen Schreibtisch, doch der größte Teil der Arbeit ist getan.
Diesmal kann auch er zum Fenster hinausschauen. Alexander hat durchaus mitbekommen, dass Nachtzüge wie seiner in Europa mittlerweile zur Seltenheit geworden sind.
„In Russland können es gar nicht weniger Nachtzüge werden“, sagt er. „Das Land ist so groß. In Europa steigt die Geschwindigkeit der Züge, alles muss schnell gehen. Dabei sind Nachtzüge für viele Passagiere eine gute Idee, auch in Europa. Egal wie kurz der Weg zu sein scheint. Du setzt dich rein, und wenn du morgens an deinem Zielort ankommst, hast du noch den ganzen Tag vor dir.“
Weiches Licht bei der Ankunft
Am Abend, wenn alle Fahrgäste ausgestiegen sind, werden Alexander und seine Kollegen im Zug wieder alles herrichten, wie es anfangs war, Morgen, am Sonntag, fährt das rollende Hotel dann wieder zurück nach Moskau: 49 Stunden, 3300 Kilometer, sieben Länder, mit neuen Passagieren und neuen Geschichten im Gepäck.
„Guten Abend, liebe Fahrgäste, unser Zug kommt am Ende unserer Strecke an. Nizza. Wir danken Ihnen, dass Sie mit uns, mit dem besten Zug gefahren sind und wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.“
Dann ist es soweit: Die Bucht von Villefranche-sur-Mer mit den unzähligen kleinen Segelbooten, ein letzter langer Tunnel und dann ein Schild mit großen Buchstaben: Nice, Nizza. Es ist sommerlich warm, als wir aussteigen. Das weiche Nachmittagslicht fällt durch die Bahnhofsfenster. Alexander Petrowitsch drückt zum Abschied fest die Hand.